„Schwach sein dürfen“
Schwach sein dürfen
24.02.15, Bad Vilbel, … morgens bei mir im Apartment
Ich habe eine Eigenschaft, die mir mein Leben schwerer macht und die mich sicherlich auch einiges an Energie und Wirksamkeit bei meinem Handeln kostet. Und am Ende kostet sie mich wahrscheinlich auch noch Erfolg bei meiner Arbeit und in meinem Leben.
Die Eigenschaft, die ich meine, ist, dass ich das Ungewisse, die Ungewissheit nicht gut aushalten kann. Das heißt, ich will sofort Klarheit in unklaren Situationen. Ich will sofort eine Lösung, wenn da ein Problem ist. Ich will sofort die Lösung und damit auch wieder die Sicherheit und wahrscheinlich auch die Kontrolle über die Situation. Und ich will ganz schnell nach Außen etwas vorzeigen können, etwas Fertiges und Gutes. Wahrscheinlich will ich damit gut vor den anderen dastehen und gut aussehen.
Und zu diesem Bedürfnis von mir, bei anderen einen guten Eindruck zu machen, also „stark“ zu wirken, passt sehr gut ein Text aus dem Buch „Kraft zum Loslassen“ von Melody Beattie, den ich gestern gerade gelesen habe: in diesem Text geht es darum, dass es erlaubt ist, Schwäche zu zeigen, schwach zu sein und trotzdem oder gerade deswegen vollwertig und stark zu sein. Das heißt also, nicht fertig, nicht perfekt, nicht gutaussehend, nicht der strahlende Sieger sein zu müssen, um in Ordnung zu sein und um anderen Menschen zu gefallen und von ihnen angenommen zu werden. Von den Eltern, den Geschwistern, den Partnern und der Partnerin, Freundinnen, Freunden und Kolleginnen, Kollegen.
Ich meine, wir müssen nicht gut aussehen und stark wirken, damit diese Menschen stolz auf uns sind. Und damit sie das Gefühl haben: „Wow, was für ein toller Mensch ist das!“ Um diesen Eindruck bei anderen Menschen zu erreichen, denke ich, dass ich fertig sein muss, strahlend sein muss. Ein Held, ein Halbgott, nahezu perfekt …! Und gleichzeitig ist da bei mir diese Angst, ganz allein auf dieser Welt zu sein. Ohne irgendjemanden, ohne Freund und ohne Rückhalt. Ich habe so eine Angst davor. Ich spüre das in diesem Moment.
Und ich merke gerade auch, dass ich dabei bin, dies zu ändern, ohne dies tatsächlich wirklich bewusst zu machen. Es geht um meinen Selbstwert. Es geht um mein Alleinsein. Es geht um mein Selbstbild. Es geht bei der Veränderung, die ich gerade und auch weiterhin durchlaufe, darum, dass ich in Ordnung bin, auch wenn ich nicht strahle. Es geht darum, dass ich in Ordnung bin, auch wenn ich schwach bin.
Es geht im Grunde genommen genau um das, was da gestern in diesem Buch stand: schwach sein dürfen. Auch in der Schwäche, stark zu sein. Stark zu sein, weil ich schwach sein darf. Stark zu sein, weil ich eben nicht immer gleich die Lösung kenne. Stark zu sein, weil ich eben nicht immer gerade meinen Weg vor mir sehe oder das Ziel, wohin ich will. Die Fähigkeit, mich stark zu fühlen, weil ich unsicher sein darf. Meine eigene Stärke zu entwickeln, unabhängig davon, wer meine Partner sind. Mich nicht stark zu fühlen, weil ich starke Partner habe, sondern mich stark zu fühlen, weil ich selbst in meiner Schwäche und Unvollkommenheit stark bin. Ich bin stark aus mir heraus, weil ich so sein darf, wie ich bin.
Ein wichtiger Punkt ist einfach, dass ich denke, dass ich dieses Projekt mit meinen Büchern, mit meinen neuen Coaching-Techniken nicht allein schaffe. Ich werde es ohne Partner, ohne Unterstützung, ohne Team, ohne Inspiration und Beiträgen von anderen, ohne gegenseitige Verstärkung nicht schaffen, es wirklich groß und nützlich für viele Menschen zu machen. Aber ich werde es mit Partnern nur dann schaffen, wenn ich selbst genau an den Punkten, die gerade meine Themen sind, selbst klar bin. Nicht fertig bin, aber klar bin und auf meinem Weg bin, also an einem bestimmten Punkt dieses Weges bin.
Und meine Stärke ist dabei meine Erlaubnis und Fähigkeit, schwach sein zu dürfen. Meine Stärke ist mein Selbstwert.
Solange ich anderen Menschen die Aufgabe gebe, mich durch ihren Glanz erstrahlen zu lassen und nicht durch meinen eigenen Glanz selbst zu erstrahlen, klappt das nicht. Solange ich im Grunde genommen mit den anderen Menschen das mache, was ich mein bisheriges Leben lang mit mir gemacht habe, nämlich: die Menschen um mich herum dürfen nicht schwach sein, sie müssen glänzen, sie müssen toll, perfekt sein oder zumindest einfach nur so aussehen, sonst sind sie nicht gut genug und nicht in Ordnung. So lange ich das so mit anderen Menschen mache, wird das mit der Zusammenarbeit mit ihnen nicht funktionieren.
Und solange ich meinen Selbstwert über das Strahlen, die Leistungen und die vermeintliche Größe der anderen definiere, also praktisch in einer Abhängigkeit zu ihnen stehe, in einer Symbiose, was meinen Selbstwert betrifft, so lange funktioniert das auch für mich persönlich als Mensch in meinem Leben nicht.
Ich selbst bin der Ursprung, die Basis für meinen Erfolg. Und die Kraft kommt aus mir heraus.